Videosprechstunde: Die virtuelle Medizin
Zur Zeit in aller Munde und vom Gesundheitsminister als Möglichkeit enormen Kostenersparnis im Gesundheitswesen favorisiert. Es wird versucht, dies als Verbesserung der ärztlichen Versorgung zu verkaufen, das Gegenteil ist leider der Fall.
Behandeln kommt von Handlung, Hand anlegen. Dies bedeutet, seine Sinne zu benutzen, um höchstmöglichen Informationsgehalt aus einer Untersuchung zu erhalten. Sehen, fühlen, riechen und hören- alles Werkzeuge, die dem Arzt im persönlichen Kontakt zur Diagnosefindung zur Verfügung stehen.
Videosprechstunde: Und am Bildschirm?
Als erstes geht die dritte Dimension verloren – die Räumlichkeit des Eindruckes verschwindet durch die Zweidimensionalität der Mattscheibe und kann auch durch technische Tricks nicht kompensiert werden.
Als zweites fehlt die Möglichkeit einer gründlichen körperlichen Untersuchung mit Inaugenscheinnahme des gesamten Patienten. Wie oft habe ich es erlebt, dass Patienten einige Sachen, die auch in der Gesprächsanamnese nicht erwähnt wurden, einfach vergessen hatten: ‚woher kommt die Narbe am rechten Knie?‘ oder ‚wann hatten sie eine Operation an der Niere?‘.
Nur, indem ich den Patienten ganz und unbekleidet vor mir sehe, kann ich auch solch vergessene Details entdecken.
Und als drittes wird mir die Chance genommen, zu erspüren, ob der Schmerz, den der Patient beklagt, oberflächlich oder tief lokalisiert ist, sich funktionell oder statisch bemerkbar macht, ob eine Überwärmung des Bereiches oder eine Konsistenzänderung des Gewebes zu erfühlen ist.
All dies macht dann nicht nur die Sprechstunde, sondern auch die Therapie virtuell. Mit dem tatsächlichen Leben hat das nichts mehr zu tun, man kann ohne weiteres dann den Arzt durch eine Diagnose-App ersetzen. Der Patient gibt dann seine bereits gegoogelten Symptome in eine, nach welchem Algorithmus auch immer programmierte App ein, die ihm eine algorithmusgerechte, sinn- und individualismusbefreite Diagnose und Therapie ausspuckt.
Und wer bürgt für eine fach- und sachgerechte Behandlung? Dr. Google oder Prof. Facebook?
Sicher keiner – der Patient ist somit mit sich und seinen Problemen alleingelassen – Schöne neue Welt! Kein virtuelles Medium kann langjährige ärztliche Erfahrung und persönlichen Kontakt ersetzen.
Herzlich, Ihr Dr. Sighart Trautwein